Im Juni 2018 wurde der Entwurf einer DIN-Norm für die Finanzanalyse von Privathaushalten vorgelegt. Auch der Arbeitskreis Beratungsprozesse hat an der Entwicklung mitgearbeitet. Doch wo liegen die Ziele und die Grenzen der DIN 77230? Ein Kommentar von Friedel Rohde, Projektkoordinator des Arbeitskreis Beratungsprozesse.
Endlich geschafft: Die DIN 77230 „Basis-Finanzanalyse für Privathaushalte“ ist unter Dach und Fach. Na gut, noch nicht so ganz, denn genau genommen wurde Anfang Juni erst ein Norm-Entwurf der Öffentlichkeit vorgestellt. Damit startete eine zweimonatige Einspruchsfrist, die am 08.08.2018 endet. Je nachdem, wie gravierend die Einsprüche aus Sicht des Arbeitsausschusses ausfallen, erfolgen noch Änderungen und findet der Feinschliff statt. Die Verabschiedung der Norm wird bis Jahresende erwartet.
Es hat sich herumgesprochen: Auch der Arbeitskreis Beratungsprozesse beteiligt sich an diesem Normierungsprojekt. Seit 2014 haben wir im Kollegenkreis rund 2.500 Arbeitsstunden investiert. Für unser Engagement gibt es gute Gründe. Zunächst einmal ganz schlicht die Überzeugung, dass eine Norm für die Versicherungs- und Finanzberatung durch Mitarbeit des Arbeitskreises an Qualität gewinnt, denn der Arbeitskreis beschäftigt sich seit mehr als zehn Jahren mit dem Thema. Außerdem sind die meisten anderen Akteure wirtschaftlichen Interessen verpflichtet: eigenen ebenso wie denen von Shareholdern. Als Non-Profit-Organisation verfolgt der Arbeitskreis hingegen keine finanziellen Interessen. Unser Netzwerk aus Praktikern, Wissenschaftlern und Juristen steht für Verbraucherorientierung, getreu dem Motto: Der beste Verbraucherschutz ist eine gute Beratung.
Standardisierung für bessere Ergebnisse
Standardisierung von Beratungsprozessen, wie in der DIN 77230 geplant, kann der Versicherungs- und Finanzberatung guttun. Sie sichert die Einhaltung eines Mindestniveaus und sorgt für reproduzierbare Ergebnisse. Zudem hat eine DIN-Norm das Potenzial, sich zum Standard für die gesamte Branche zu entwickeln. Das liegt insbesondere bei jenen Vertriebswegen im Verbraucherinteresse, bei denen bislang noch klassischer Produktverkauf oder Schmalspurberatung an der Tagesordnung sind.
Nicht nur Insider unserer Branche finden auf Anhieb Beispiele für Verkaufsstrategien zulasten von Kunden – ob die „Alt und doof“-Zertifikate von Lehman-Brothers, kapitalbildende Lebensversicherungen mit Endalter 85 oder dubiose Beteiligungen auf dem grauen Kapitalmarkt. Und genau diese Beispiele sind es, die Medien und Politik regelmäßig als Argumente für noch mehr Regulierung dienen. Gerade auf diesem Feld aber bewahrheitet sich nur zu oft: Gut gedacht ist nicht immer gut gemacht. Oft bereiten regulatorische Eingriffe vor allem Juristen Freude. Sie können mit deren Auslegung ein geregeltes Einkommen erzielen.
Selbstregulierung ist sinnvoll
Es liegt im ureigenen Interesse der Branche, nicht länger den Gesetzgeber zum Eingreifen zu provozieren, sondern sich für Selbstregulierung einzusetzen. Die kunden- und bedarfsgerechte Beratung ist nicht nur ein Hygienefaktor, sondern eine wesentliche Voraussetzung, dass privatwirtschaftlich aufgestellte Versicherer und Finanzdienstleister auch in Zukunft noch eine Existenzberechtigung im Geschäft mit Verbrauchern haben.
Eine Norm für die Finanzberatung trifft den Nerv unserer Zeit. Umso wichtiger, dass der Inhalt auch hohen Ansprüchen gerecht wird. Von meinen Kollegen, die für den Arbeitskreis Beratungsprozesse im DIN-Projekt mitgearbeitet haben, weiß ich: Der Normungsausschuss hat sich seine Arbeit nicht leicht gemacht. Mehr als einmal drifteten die Vorstellungen der Beteiligten auseinander. Das überrascht nicht wirklich. Schließlich waren im Ausschuss Vertriebe, IT-Dienstleister, Versicherer, Banken und Sparkassen ebenso vertreten wie Verbraucherschützer, Makler, berufsständische Organisationen und nicht zuletzt der Arbeitskreis Beratungsprozesse. Das Resultat muss also ein Kompromiss sein, oder etwas freundlicher formuliert: die gemeinsame Schnittmenge. Diese Erkenntnis spricht nicht gegen das Ergebnis, ganz im Gegenteil. Wenn es der gesamten Branche gelungen sein sollte, sich auf diese Standards zu committen, wäre schon viel erreicht.
Die Anwendung der DIN 77230 steht für das Versprechen einer umfassenden verbraucherorientierten Beratung. Gerade deshalb darf sie nicht als Vehikel zur Absatzförderung instrumentalisiert werden. Diese Gefahr besteht durchaus. Schon heute, also noch vor Inkrafttreten der Norm, mehren sich Pressemitteilungen zur „Beratung nach DIN“ oder gar der Zertifizierung von Beratungsprozessen nach DIN 77230. Wer aus der hart erstrittenen Norm noch vor ihrem offiziellen Start ein Marketing-Gimmick macht, erweist der Branche einen Bärendienst und fördert Zweifel an der Lauterkeit ihrer Absichten.
Beratung ohne Norm?
Die DIN 77230 gewährleistet, unabhängig vom jeweiligen Berater, eine einheitliche Erhebung der wichtigsten Daten für eine der umfassenden Beratung vorgeschaltete Basisanalyse. Auf diese Weise steigt die Wahrscheinlichkeit, nichts Wichtiges zu übersehen. Die Ergebnisse zu bewerten, bleibt weiterhin Aufgabe des Beraters im Austausch mit dem Kunden. Deshalb war die trennscharfe Abgrenzung von Analyse und nachfolgender Beratung eines der wichtigsten Anliegen des Arbeitskreises für die künftige Norm.
Kann man auch in Zukunft ohne DIN 77230 beraten? Die Antwort ist ein klares „Ja“! Nicht jeder Kunde, der wegen einer elektronischen Versicherungsbestätigung (EVB) Kontakt aufnimmt, will umfassend beraten werden. Häufig führt ein konkreter Auslöser zum Beratungsgespräch, etwa ein neues Auto, der Kauf einer Immobilie, Heirat oder die Geburt eines Kindes. Aus diesem Grund behalten zum Beispiel die Beratungsleitfäden, die der Arbeitskreis für unterschiedliche Anlässe entwickelt hat, auch in Zukunft ihre Berechtigung. Auch jede andere systematische Vorgehensweise zur Ermittlung des Status quo und der Ziele und Bedürfnisse des Kunden steht für Beratungsqualität, sofern sie sich am Kundeninteresse orientiert, sachlich begründet sowie nachvollziehbar dokumentiert wird. Kurz: Für die verbrauchergerechte Beratung braucht es keine Norm – in vielen Fällen aber kann sie nützlich sein.
Wie geht es weiter?
Es ist absehbar, dass einige Akteure, insbesondere aus dem Kreis der Initiatoren, die Norm in nächster Zeit in Beratungssoftware überführen oder Zertifizierungen von Software, Beratungsprozessen und Beratern anbieten werden. Trotzdem bleibt festzuhalten: Die Norm kann auch ohne Software angewendet werden, was angesichts der Komplexität der zugrunde liegenden Berechnungen allerdings nicht ganz trivial ist. Hier sind unabhängige Softwarehäuser gefordert, sich einem offenen Wettbewerb zu stellen.
Für die Feststellung, „nach DIN 77230“ zu beraten, braucht es keine Zertifizierung. Allerdings sollte die Aussage nicht allein Marketingzwecken dienen, sondern mit einem Qualitätsanspruch für den gesamten Beratungsprozess verbunden sein. Spannend bleibt die Frage, ob die DIN 77230, falls sie wie beabsichtigt realisiert wird, den Einstieg in eine voll digitale Beratung bieten kann.
Der Arbeitskreis Beratungsprozesse wird das Thema weiter begleiten und dazu in seinem Internetauftritt für Vermittler kostenlose Informationen bereithalten.
Die DIN 77230 (Stand Juni 2018)
- beschreibt die Analyse der finanziellen Situation von Privathaushalten
- benennt relevante Risiken und Notwendigkeiten
- liefert die Grundlagen für eine private Vermögensbilanz sowie eine Einnahmen- und Ausgabenrechnung
- enthält statistische Rechengrößen, die nach heutigem (Entwurfs-) Stand regelmäßig aktualisiert werden müssen
- legt eine (abstrakte) Rangfolge für die Priorisierung von Risiken fest, die nach drei Bedarfsstufen differenziert („Sicherung des finanziellen Grundbedarfs“, „Erhaltung des Lebensstandards“, „Verbesserung des Lebensstandards“)
Der Normentwurf bzw. die spätere Norm kann kostenpflichtig beim Beuth-Verlag bestellt werden.
Den Artikel lesen Sie auch in AssCompact 08/2018, die in der ersten Augustwoche erscheint, Seite 100 und bei AssCompact Online.