Die 5 größten Irrtümer zur DIN 77230

Nach mehr als vier Jahren intensiver Arbeit war es endlich geschafft: Anfang Februar stellte das DIN – Deutsches Institut für Normung e. V. im Rahmen einer festlichen Veranstaltung in Berlin die DIN 77230 Basis-Finanzanalyse für Privathaushalte der interessierten Fachöffentlichkeit vor. Mit dabei waren unter anderem Dr. Erich Paetz, Referatsleiter Finanzdienstleistungen im Bundesministerium der Justiz und für Verbraucherschutz sowie Mitglied des Verbraucherbeirats der BaFin, und Holger Rohde von der Stiftung Warentest.

Die Mitglieder des Normungsausschusses könnten auf das Erreichte stolz sein, sagt Namensvetter Friedel Rohde, Projektkoordinator beim Arbeitskreis Beratungsprozesse. Die Idee einer normierten Analyse hat uns von Beginn an überzeugt. Standardisierung sorgt für mehr Transparenz und reproduzierbare Ergebnisse. Deshalb hat der Arbeitskreis gleich mehrere Delegierte in den Arbeitsausschuss zur DIN 77230 entsandt. Sie konnten einen wesentlichen Beitrag zur Qualität der neuen Norm leisten. Doch es gibt noch einiges zu tun – nicht zuletzt in der Kommunikation. In die aktuelle Berichterstattung zur DIN 77230 haben sich einige Irrtümer eingeschlichen. Sie vereinfacht zu stark und könnte die neue Norm im schlimmsten Fall sogar diskreditieren.

Um das zu vermeiden, klärt der Arbeitskreis Beratungsprozesse über die fünf größten Irrtümer zur DIN 77230 auf.

Irrtum Nummer 1: Die DIN 77230 und ihr Vorläufer DIN SPEC 77222 sind doch das Gleiche

Eine DIN SPEC (von englisch: Specification) kann von einem kleinen Kreis von Marktteilnehmern unter sich ausgemacht werden. Das ist legitim, reicht für eine echte Norm aber nicht aus. Normen zeichnen sich dadurch aus, dass sich die gesamte Branche im Konsens auf ein Regelwerk einigt. Auf dem Weg von einer SPEC zur Norm ergeben sich in der Regel auch grundlegende fachliche Änderungen – so auch hier: Die DIN 77230 greift zwar das Grundgerüst der DIN SPEC 77222 auf, unterscheidet sich aber teilweise gravierend von ihr. Am deutlichsten zu erkennen ist dies in der klaren Abgrenzung zur Beratung, wie sie die Norm nun vornimmt.

Irrtum Nummer 2: Die DIN 77230 regelt die Beratung

Häufig ist von der „Beratung nach DIN“ zu lesen. Doch die gibt es gar nicht. Die DIN 77230 liefert das Regelwerk für einen umfassenden („ganzheitlichen“) Basis-Analyseprozess als Grundlage einer späteren Beratung. An dessen En DIN de steht die Auflistung von Finanzthemen in einem verbindlich vorgegebenen Rahmen – vergleichbar mit dem Blutbild beim Arzt. Diese Basis-Analyse zu vertiefen, zu interpretieren, mit Zielen und Wünschen des Mandanten abzugleichen und individuelle Empfehlungen auszusprechen, ist und bleibt die originäre Aufgabe von Beraterinnen und Beratern.

Irrtum Nummer 3: Wer nach DIN 77230 arbeitet, braucht eine Zertifizierung

Bei allen Normen gilt: Sie sind freiwillig und jeder darf behaupten, sich ihr unterworfen zu haben. Stimmt dies nicht, haben nur Wettbewerber die Möglichkeit, gegen diese Verbrauchertäuschung vorzugehen. In allen Branchen ist es daher üblich, sich die Norm-Konformität extern zertifizieren zu lassen. Diese Praxis wird sich voraussichtlich auch bei der DIN 77230 etablieren. Pflicht ist es aber eben nicht.

Irrtum Nummer 4: Einmal DIN, immer DIN

Die Basisanalyse nach DIN bietet sich immer an, wenn der Kunde die finanzielle Situation seines Haushalts einer umfassenden Betrachtung unterziehen möchte. Hierfür wird häufig das Schlagwort „ganzheitlich“ verwendet. Es meint die gleichzeitige Einbeziehung aller Themenbereiche, von der Haftpflicht- über die Krankenversicherung bis zum Vermögensaufbau. Den weit häufigeren Fall, dass Kunden nur zu einem konkreten Einzelanlass (z. B. neues Auto, Nachwuchs oder Kauf einer Immobilie) eine Analyse haben wollen, regelt die Norm nicht. Diese Situationen müssen auch nicht zwangsläufig eine umfassende („ganzheitliche“) Analyse zur Folge haben, auch wenn dies für die meisten Haushalte sicher irgendwann sinnvoll wird. Eine DIN-konforme Rundum-Analyse und die anlassbezogene Ausschnittbetrachtung ergänzen sich in der Beratungspraxis. Auch Unternehmen, welche die DIN 77230 implementieren, werden in den ungeregelten Bereichen mit ungenormten Analyseprozessen arbeiten. Es zählt der Kundenwunsch, der entsprechend dokumentiert werden muss. Die spannende Frage lautet eher: Wie stark strahlen die fachlichen Festlegungen (z.B. zu den Orientierungsgrößen) aus der Norm auf nicht normierte Prozesse aus?

Irrtum Nummer 5: Ein bisschen DIN ist besser als gar nichts

Schon bevor die77230 überhaupt in Kraft getreten ist, haben erste Marktteilnehmer damit geworben, „nach DIN“ oder „in Anlehnung an DIN 77230“ zu arbeiten. Doch bei Normen gibt es nur das Prinzip „Alles oder Nichts“: Entweder wird der gesamte Norm-Prozess eingehalten, oder bei der Aussage handelt es sich um eine Mogelpackung. Natürlich befinden sich Teile der Branche aktuell in einem Dilemma, denn bis sie die Anforderungen der Norm komplett erfüllen können, werden bei manchem Akteur selbst bei vollem Bekenntnis zur DIN 77230 noch Monate oder Jahre vergehen. Die Frage, was auf dem Weg zur Norm für das Marketing seriös möglich ist, wird derzeit heftig diskutiert. Dennoch gilt: Wenn mit „in Anlehnung an DIN“ und Ähnlichem geworben wird, sollten alle Alarmglocken läuten. 

Vertrauen nicht verschleudern

Auch wenn sie nur den Prozessschritt der Analyse und die ganzheitliche Rundum-Betrachtung abdeckt: Die DIN 77230 hat das Potenzial, den Beratungsmarkt spürbar zu verändern. Sie geht jeden Marktteilnehmer an, ob Vermittler, Produktgeber, Softwareanbieter oder Verbraucher. An der DIN 77230 wird sich bald nicht nur die Rechtsprechung orientieren, sondern in Zukunft vielleicht auch Gesetze – aber nur, wenn sie ihr Vertrauenskapital nicht verschleudert. Aktuell hat das DIN-Siegel bei Verbrauchern noch einen exzellenten Ruf. Wir hoffen sehr, dass uns als Branche eine Überdehnung der DIN-Vermarktung am Ende nicht auf die Füße fällt. Wenn wir mit dem Vertrauen der Kunden spielen und es verlieren, hätte unsere Branche eine große Chance zur Selbstregulierung und zur Verbesserung ihrer Reputation verspielt. Dieser Gefahr muss sich jedes Unternehmen bewusst sein, das mit der neuen Norm wirbt.

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